Als würde Woody Allen die Polen porträtieren

4 November 2024

Deutsche dürfen noch lernen, seinen Namen richtig aufzusprechen, in Polen landete Mikołaj Łoziński einen echten Hit.

Im Mittelpunkt seines Romans „Stramer“ steht eine jüdische Familie in der Stadt Tarnów. Soap-Opera trifft Zeitgeschichte.

Auch vor Hitlers Überfall auf Polen und die folgende Ermordung der dortigen Juden durch die Aggressoren war Tarnów für die meisten Polen tiefe Provinz. Wer wie Mikołaj Łoziński einen ganzen Roman um den Mikrokosmos Tarnów kreisen lässt, der setzt damit ein Statement. Łozińskis kleine Saga der Familie Stramer unternimmt das Wagnis, nicht die heroische, fast immer im massenhaften Tod endende Opferhistorie nach dem Vorbild von „Schindlers Liste“ zu erzählen, sondern an den Alltag, die großen Hoffnungen und kleinen Freuden von ziemlich normalen Menschen unter den über drei Millionen polnischen Juden zu erinnern. „Stramer“ wurde in Polen gewiss auch deswegen ein Bestseller, weil dort immer mehr Menschen begreifen, dass Hitlers grauenvoll erfolgreicher Feldzug gegen die wehrlosen Juden das Angesicht der polnischen Kultur auf immer verstümmelt hat.

Während sich die großartigen Romane der Warschauer Ghetto-Überlebenden Hanna Krall dem Unsagbaren des Verlustes mit literarischer Finesse nähern oder das filmische Meisterwerk „Ida“ von Paweł Pawlikowski sich in historisierendem Schwarz-Weiß der 1950er-Jahre auf die Suche macht, geht Łoziński, Jahrgang 1980, sein Thema ganz unprätentiös an. Als handele es sich um eine neurotische New Yorker Großfamilie aus dem Kosmos Woody Allens, lernen wir über ihr gelinde meschuggenes Beisammensein die Stramers in Episoden kennen.

Wie bei Woody Allen

Allen voran den Patriarchen Nathan, der seinem in New York wohlhabend gewordenen Bruder Ben nachfolgen wollte, dann aber aus Heimweh und Liebe wieder nach Tarnów zurückkehrte. Ihm sind vom Ausflug in die Neue Welt ein paar amerikanische Slangsprüche und eine notorische Unfähigkeit für Geschäfte geblieben. Mal investiert Nathan in Kerzen ohne Docht, mal eröffnet er ein kleines Caféhaus, dessen Gäste partout nichts konsumieren wollen und denen er dann aus Rache die Stuhlbeine absägt. Neben diesem typischen „Luftmensch“ ackert seine Frau Rywka als jiddische Mame für ihre sechs Kinder. Manchmal träumt sie vom Meer, das sie anders als ihr Mann nie gesehen hat.

Dem Aufwachsen der jungen Stramers zwischen Backfischliebe und Antisemitismus, zwischen kommunistischer Heilslehre und dem Fußball des jüdisch geprägten Kultclubs Samson Tarnów widmet sich der Autor bis ins Detail. Schließlich wussten die Protagonisten Salo, Hesio, Rudek, Nusek, Wela und Rena ja nicht, dass es gehöriger Zähigkeit und einer großen Portion Glücks bedurfte, dass die Stramers nicht kollektiv in Gaskammern oder vor deutschen Maschinenpistolen endeten.

Eine ganze Ethnie – die Ostjuden – im Wartesaal des Todes hat der britische Historiker Bernard Wasserstein in seinem Meisterwerk „On the Eve“ soziologisch beschrieben. Viele seiner Beobachtungen – Säkularisierung und wachsende Marginalisierung, Druck zu Auswanderung oder Assimilierung, überlegene Bildung trotz wachsender Armut – finden sich als Storys auch bei Łoziński. Da sinnt Mutter Rywka ihren verschwundenen Nachbarmädchen nach, die im späten Habsburg von Zuhältern nach Südamerika gelockt wurden.

Da geraten mehrere Stramers in den Sog des Kommunismus und einer von ihnen gar in Haft, während der Tarnówer Karol Radek als enger Freund Lenins 1939 von Stalin liquidiert wird. Da tappt der Schöngeist Rudek als Student der Altphilologie ins Leben der Krakauer Bohème und gerät dabei an die emanzipierte und reiche Irka, deren Fotoapparat ihm viel später unter den Deutschen das Leben retten wird.

Das Bewundernswerte an diesem Roman ist die Leichtigkeit, mit der Łoziński seine Schicksale fast im Stil einer Soap-Opera abspult, während er und die Leserschaft zugleich wissen, dass sich, unterlegt von jüdischen Witzen, von Flirts und Seitensprüngen, für die Akteure die Schlinge immer weiter zuzieht. Nach dem Sommer 1939, der den Spanienkämpfer Salo Stramer in der Pariser Résistance antrifft, retten sich einige Geschwister aus Tarnów über den Fluss San in die Sowjetunion, wo sie Schlimmes wie Deportation, Hirnwäsche oder Hunger, aber immerhin nicht das Allerschlimmste, Gaskammern und Sonderkommandos, erwartet.

Wie Rudek in Lemberg 1941 vor der vorrückenden Wehrmacht aus einer sowjetischen Sargfabrik ostwärts ins Überleben flieht und Bruder und Schwester in letzter Sekunde mitnimmt, deutet dieser gewiefte Autor nur an. Finden ein paar Stramers tatsächlich lebend aus dem Labyrinth der Bloodlands heraus? Der Roman endet mit Rywkas letzten liebevollen Gedanken an ihre Kinder und Enkel – im KZ Stutthof. Das Meer, von dem sie träumte, sollte sie niemals sehen.

Mikołaj Łoziński: Stramer. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Suhrkamp, 410 Seiten, 26 Euro

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